Wildnis in der Stadt meint oft wilde Wiesen.
Artenvielfalt auf der Blumernwiese. Wie wild darf die Natur in der Stadt sein? Foto Adobe Stock
19. August 2021 | Naturschutz und Biodiversität

Stadtnatur und Biodiversität: Mehr Wildnis wagen!

Der diesjährige, erstmals online ausgetragene Deutsche Naturschutztag (DNT) stand unter der Frage „Welche Natur wollen wir?“ Dass unsere Biodiversitätskrise nach genauso drängenden Antworten verlangt wie der Klimawandel, stand für die Veranstalter BBN, DNR und BfN auf ihrem 35. DNT im Fokus. Die am Ende formulierte „Wiesbadener Erklärung“ – die hessische Landeshauptstadt war Gastgeberin – fordert ein nachhaltiges Wachstumsmodell, hin zu mehr Suffizienz, einen echten Wandel der Agrarpolitik sowie schnelle Planung im Einklang mit dem Artenschutzrecht. In einem der Foren ging es um „Herausforderung Insektenschutz“. Kommunalvertreter des Projekts „Städte wagen Wildnis“ stellten Ergebnisse vor.

Städte wagen Wildnis

Oft bleibt unklar, was mit Wildnis gemeint ist. Wildnis sei etwas sehr Subjektives, sagt Manuel Schweiger. „Während für manche der Wald hinterm Haus schon Wildnis ist, müssen andere in entlegenste Regionen reisen“, so der Wildnisreferent von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF). Für Schweiger sind es Landschaften, „wo kein Gebäude steht und keine Straße durchführt, wo die Natur nach ihren eigenen Regeln funktioniert“.

Das ist bisher auf 0,6 Prozent der Landfläche der Fall. Nur etwas mehr als ein halbes Prozent in Deutschland ist Wildnis. Bundesziel verfehlt. Denn bis Ende 2020 hatte sich die Bundesregierung in ihrer Biodiversitätsstrategie zwei Prozent vorgenommen. Nun gilt es, lauter für das Thema zu trommeln. Schweigers ZGF koordiniert die Initiative „Wildnis in Deutschland“.

Wildnisfonds für Kommunen und Vereine

Um die zwei Prozent (darunter fünf Prozent der Waldfläche) umzusetzen, legte das Bundesumweltministerium (BMU) Mitte 2019 einen Wildnisfonds auf und stattete ihn mit zehn Millionen Euro pro Jahr aus. Mit dem Geld können Kommunen und Vereine Flächen ankaufen oder eintauschen, um sie dauerhaft der Nutzung zu entziehen. Vergangenes Jahr seien Projekte bewilligt worden, sagt Cornelia Neukirchen vom BMU beim DNT: „Vier davon wurden umgesetzt.“

Beispielsweise konnte das brandenburgische Wildnisgebiet Heidehof, Teil eines ehemaligen Truppenübungsplatzes, von dem die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg 2 700 ha besitzt, um 73ha erweitert werden. Angekauft wurden auch 318 ha Frankenwald durch die Stiftung Naturschutz Thüringen; im Laubacher Wald in Hessen wiederum wurden 224,5 ha gesichert, genauso wie ein 3,5-ha-Flurstück im Müritz-Nationalpark. Insgesamt sind das bisher rund 620 ha Fläche, die natürlich wachsen dürfen.

Dieses Jahr habe es noch keine Anträge gegeben, berichtet Neukirchen, aber immerhin schon Anfragen. „Vielleicht stellen die ja noch Anträge.“ Der Wildnisfonds, so die Fachfrau des BMU, sei ein „fast exotisches Förderprogramm“. Nun ist auch ein Film geplant, um den Fonds bisschen bekannter zu machen.

Wie sieht Wildnis in der Kommune aus?

Tausend Hektar mindestens – so groß sollte ein Wildnisgebiet nach Auffassung der Naturschutzverbände und auch des Bundesamts für Naturschutz (BfN) sein, damit dort die natürlichen und raumgreifenden Prozesse auch vollständig ablaufen können. Doch wie sieht das in der Stadt aus? Wo es natürlich auch mehr oder weniger wilde Grünflächen gibt. Aber eben selten von solcher Größe. Wie also sieht Wildnis in der Kommune aus?

Das haben die drei Städte Frankfurt am Main, Hannover und Dessau-Roßlau fünf Jahre lang mit BfN-Förderung getestet: eine neue Form des Stadtgrüns, urbane Wildnis, die sich von „echter Wildnis“ durch ihre begrenzte Kleinflächigkeit unterscheidet. Projektkoordinator Thomas Hartmanshenn vom Frankfurter Umweltamt zitierte da beim DNT den namhaften Stadtökologen Ingo Kowarik:

„Wildnis in der Stadt bedeutet zum einen das Zulassen von natürlichen, auch von Zufall geprägten Entwicklungsprozessen. Um Akzeptanz, Nutzbarkeit und Erlebbarkeit der Wildnis auf Seiten der Stadtbevölkerung zu ermöglichen sowie die biologische Vielfalt zu steigern oder einzelne Arten zu fördern, können Eingriffe in die Wildnisflächen erfolgen.“

Und dazu gehöre auch die Verkehrssicherung und Besucherlenkung, sagt Hartmanshenn: „Wir haben neue Lebensräume geschaffen.“ Und die werden extensiv gepflegt. Für Bienen, Falter, Heuschrecken & Co. Zum einen auf 15 ha rund um eine ehemaligen Mülldeponie, den Monte Scherbelino, zum anderen im 14 ha großen Frankfurter Nordpark Bonames. „Insgesamt haben wir 507 Tierarten feststellen können“, heißt es in einem Video der Projekt-Website. Beide Wildnisflächen sollen natürlich auch erlebbar sein. Das übernehmen ehrenamtliche Wildnislotsen, die Führungen anbieten.

„Wildnis ist ja keine Kategorie dieses Flächenschutzes, eine Definition als solche gibt es nicht“, erklärt Hartmanshenn. Der Zugang zu diesen Flächen müsse immer gewährleistet und langfristig sichergestellt sein.

Flexibles Pflegemanagement von Wiese & Co.

Die Stadt Hannover wählte zehn Flächen für das Projekt aus: Grünzüge, postindustrielle Brachen und siedlungsnahe Grünflächen. Manche Flächen wurden gemäht, manche beweidet, und teilweise hat man auch natürlichem Wachstum freien Lauf gelassen.

„Mahd, Sukzession und Beweidung – wir brauchen alle drei Typen“, sagte Christoffer Lange-Kabitz beim DNT. „Und wir brauchen die direkt nebeneinander“, so der Umweltplaner, der für das Projekt in Hannover die Freilanderfassung übernahm. Dort, wo man die Mahd extensiviert habe, berichtet der Stadtökologe, fehlten bis heute die Wiesenarten – Storchschnabel, Glockenblume, Platterbse oder Schaumkraut. „Das Samenpotenzial ist in manchen Böden einfach nicht mehr vorhanden“, erklärt Lange-Kabitz. Deshalb stellte er dort auch eine verarmte Insektenfauna fest.

Hier könnte das Einsäen krautiger Pflanzen einen blütenreichen Lebensraum und offene Bodenstellen schaffen, wie es in Dessau-Roßlau erfolgreich war. „In den Städten brauchen wir ein flexibles Management, um auf extreme Witterungen reagieren zu können“, empfiehlt der Stadtökologe. Schmetterlinge z.B. zeigten eine sehr starke Reaktion auf die Dürresommer, aber auch auf die Wiesenpflege. Folge: Im Jahr 2019 ließen sich in Frankfurt und Hannover nur wenig Tagfalter nachweisen.

Mehr zum Bündnis „Städte wagen Wildnis“  Städte wagen Wildnis – Start (staedte-wagen-wildnis.de)

Die Wiesbadener-Erklärung lesen Sie unter:  Die Wiesbadener Erklärung – 35. DNT 2021 – Deutscher Naturschutztag (deutscher-naturschutztag.de)

Autor: Tim Bartels, aus  UmweltBriefe, Juli/August 2021.

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