Sabine Drees ist Diplom-Volkswirtin und beim Deutschen Städtetag Referentin für Internationales und globale Nachhaltigkeit. Foto: Tim Bartels
21. November 2019 | Kommunales Nachhaltigkeitsmanagement

SDG-Portal: „Diese Arbeit haben wir den Kommunen abgenommen“

Für Bürgermeister und andere Kommunalvertreter, aber auch für Bürgerinnen und Bürger, die wissen wollen, wo ihre und andere Kommunen mit mehr als 5000 Einwohnern in puncto Nachhaltigkeit stehen, gibt es jetzt einen tollen Datenservice im Internet:  das SDG-Portal. Es soll dabei helfen, auf dem Weg zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, den SDGs (Sustainable Development Goals), zu ermitteln, wo der Schuh drückt. Dargestellt und bewertet werden je nach Datenlage bis zu 47 Indikatoren. An der Entwicklung dieser kommunalen Anzeiger beteiligt war Sabine Drees vom Deutschen Städtetag. „Damit erhalten Städte und Gemeinden in Sekundenschnelle einen Nachhaltigkeitsbericht“, sagt die Referentin für Internationale Angelegenheiten.

Interview: Tim Bartels

Frau Drees, als die SDGs spruchreif waren, war da sofort klar, dass die sozusagen ganz unten umgesetzt werden müssen, also auf der kommunalen Ebene? Zunächst waren die Kommunen da ja gar nicht adressiert, oder?
Ja, auch später nicht so richtig. Wir haben den Prozess von Anfang an begleitet, schon weit vor dem Jahr 2015. Damals hatte Deutschland Frau Staatsministerin Maria Böhmer vertreten. Wie Sie sagten, die kommunale Ebene war bei der Erstellung und Gestaltung systematisch nicht eingebunden. Aber wir sind ja auch Lobbyisten und haben mit dem europäischen RGRE  (Rat der Gemeinden und Regionen Europas, d. Red.) dafür geworben, dass es dieses Stadtziel 11 gibt. Das ist ein Erfolg der Kommunen. Man merkt aber schon, dass die 17 SDGs und die 169 Unterziele ohne ständige Begleitung der Praktiker entstanden sind. Schlimm ist das nicht, aber sie haben ein hohes Abstraktionsniveau.

Die 17 UN-Ziele sind mittlerweile einigermaßen bekannt. Was aber verbirgt sich hinter den 169 Unterzielen?
Die Unterziele konkretisieren die 17 SDGs.  Also zum Beispiel 11.1 ist ein interessantes Unterziel. Da heißt es in einem Satz: Slums aufwerten und für bezahlbaren Wohnraum sorgen. Und so ist es bei allen Zielen, deren Unterziele einfach noch mal spezifischer sind. Ziel 2 heißt: Kein Hunger in der Welt. Darunter kann man sich gut etwas vorstellen, aber Ziel 2 beinhaltet auch „bessere Ernährung und nachhaltige Landwirtschaft“ und dieses Unterziel ist für Deutschland relevant. Für uns haben wir die Indikatoren „Kinder mit Übergewicht“ und „Stickstoffüberschuss“ für eine resiliente Landwirtschaft gefunden.

Und das Unterziel von Nummer 11: „Slums aufwerten“?
Das ist in Deutschland nicht relevant. Und zwar nicht, weil man hier kein Stadtviertel aufwerten könnte und es in Deutschland auch keine benachteiligten Stadtviertel gibt. Slums definiert man als illegale Wohnform, die haben wir hier nicht.

Noch nicht, Gott sei Dank.
Aber erschwinglicher Wohnraum ist natürlich ein sehr relevantes Unterziel. Das haben wir mit aufgenommen.

Sie sagen, dass Sie sehr viel Lobbyarbeit leisten mussten, damit dieses Ziel 11, das eben sehr konkret und direkt die Städte und Gemeinden anspricht – Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig machen – aufgenommen wurde. Nun sollen aber doch eigentlich alle 17 Ziele die Kommunen betreffen. Braucht es da dann überhaupt ein spezifisch kommunales Ziel? Besteht jetzt nicht die Gefahr, dass Kommunen nur noch auf dieses Ziel 11 schauen?
Ja, wir haben das diskutiert, dieses Argument kam. Denn eigentlich kann man gar kein Ziel mit Leben füllen, ohne die Kommunen zu beteiligen. Wir haben dann doch für das Stadtziel 11 geworben, weil wir wollten, dass die kommunale Beteiligung sichtbar wird – und für jeden verstehbar. Niemand zweifelt daran, dass nachhaltige Stadtentwicklung ein kommunales Thema ist. Viele müssen aber darüber nachdenken, um zu verstehen, dass Wasser eine kommunale Aufgabe ist. Es ist hierzulande eine kommunale Aufgabe, aber auch nicht überall in der Welt, also global gesehen gibt es da schon Zuständigkeitsunterschiede. Auch in Deutschland werden viele Ziele – Armutsbekämpfung zum Beispiel – nicht mit kommunalen Aufgaben verbunden. Fälschlicherweise. Das ist besonders wichtig für die Öffentlichkeitsarbeit.

Die Kommunen in Deutschland sollen sich jetzt also mit den UN-Nachhaltigkeitszielen auseinandersetzen und schauen, wo die 169 Unterziele für sie relevant sind?
Diese Arbeit haben wir den Kommunen größtenteils schon abgenommen. Das ist der Ansatz unseres SDG-Portals. Wir haben für alle Kommunen über 5000 Einwohner untersucht, welche Unterziele für sie relevant sind. Was bedeutet das? Wenn wir das Ziel Armut haben zum Beispiel, bedeutet das in Teilen der Welt, etwa in Afrika, dass man weniger als einen US-Dollar pro Tag zum Leben hat. Bei uns heißt Armut etwas anderes. Wir haben einen anderen Indikator dafür gefunden, nämlich die Anzahl der SGB-II-Empfänger.
Und so haben wir jedes Ziel übersetzt. Dann haben wir uns gefragt: Ist dieses Ziel überhaupt beeinflussbar von Kommunen? Nehmen wir Ziel 10, „Ungleichheit in und zwischen Ländern verringern“. Der Einfluss der Kommunen, Ungleichheiten zwischen Ländern in der Welt zu verringern, ist gering, aber Kommunen können innerhalb Deutschlands Ungleichheiten überwinden helfen. Weil einige der 169 Unterziele mehrere Aussagen beinhalten, sind aus 169 insgesamt 220 Statements geworden. Das war wirklich Arbeit, die unser Forschungsinstitut, das Difu (Deutsches Institut für Urbanistik, d.Red) durchgeführt hat, und mit der Auswahl der passenden Indikatoren zu den Unterzielen ein ganzes Jahr gedauert hat.

Die 220 Statements sind also alle aus deutscher Schmiede?
Wir haben die einzelnen Unterziele in Statements unterteilt., weil es keinen Sinn macht, ein so wichtiges Thema wie „erschwinglicher Wohnraum“ für uns für irrelevant zu erklären, nur weil es in einem Satz steht mit „Slums weiterentwickeln“. Inhaltliche Veränderungen haben wir aber nicht vorgenommen.

In den Unterzielen steckt also offenbar immer noch mehr drin?
Ja, weil mehrere Aussagen drin sind. Dann haben wir von diesen 220 Statements 126 für relevant und beeinflussbar von deutschen Kommunen gehalten. Für alle Teilaussagen, die relevant und von Kommunen beeinflussbar sind, haben wir dann Indikatoren gesucht.  Dabei wurden über 630 Indikatoren untersucht, Indikatoren der Vereinten Nationen, der Europäischen Kommission, der Bundesregierung, der Landesregierungen – und auch Indikatoren von  Kreisen. Dann haben wir in einem sehr umfangreichen und partizipativen Verfahren unter Einbeziehung unserer Mitgliedsstädte, von Wissenschaftlern, moderiert von der Bertelsmann-Stiftung, begleitet vom Difu und allen Projektpartnern, am Ende 47 Kernindikatoren gefunden, die valide sind, eine hohe Qualität haben und frei verfügbar sind.  Aber wir haben natürlich auch noch Lücken, wir haben noch nicht für alle Unterziele Indikatoren gefunden.

Können Sie da ein Beispiel nennen?
Wir haben insbesondere keine guten Indikatoren, um das Ziel Klimaschutz abzubilden. Das ist uns besonders wichtig. Da sind wir aber dran. Im Fall der CO2-Emissionen gibt es drei Möglichkeiten: Man kann CO2-Emissionen schätzen, man kann sie berechnen und man kann sie messen. Schätzungen sind unseren Wissenschaftlern nicht gut genug. Unsere Indikatoren sollen eine hohe Qualität haben, methodisch einwandfrei sein, frei verfügbar sein und funktional. Und wenn irgendwo Zweifel bestehen, sind das nach unserer Methode keine Indikatoren Typ 1.

Sie verwenden Indikatoren vom Typ 1 und Typ 2. Was unterscheidet die?
Der Typ-2-Indikator ist nicht frei verfügbar und nicht kostenlos zu haben. Also entweder gibt es noch keine Daten dafür. Oder es bedeutet Aufwand, um sie zu bekommen.

Was ist mit den CO2-Rechnern, die es längst gibt und genutzt werden können?
Finden unsere Wissenschaftler noch nicht gut genug.

Das Klima-Bündnis europäischer Städte und Gemeinden bietet zum Beispiel einen an.
Wir haben jetzt Kontakt zu einer Firma aufgenommen, die uns Startbilanzen angeboten haben, die wir als Schätzungen klassifizieren. Das Angebot ging so in die Richtung, wenn das Bruttoinlandsprodukt steigt, kann man davon ausgehen, dass mehr produziert wird, dass die Menschen sich mehr bewegen, mehr Verkehr entsteht und, und, und. Da sind unsere Städte, die bereits Messungen durchführen, einfach viel weiter, das müssen wir noch zusammenbringen.

Also wenn in einer Kommune ein Windpark projektiert wird, entsteht dort Wirtschaftskraft, Wertschöpfung und eher immer weniger CO2.
Kann ja auch sein, dass jemand einen neuen Job gefunden hat und mit dem Fahrrad hinfährt. Deswegen finden wir diesen Ansatz noch nicht überzeugend genug.

Unter den 47 Indikatoren, die Sie in Ihrem Katalog stehen haben, ist unter der Nummer 38 der Klimaschutz ja dennoch mit aufgeführt. Wie haben Sie dazu den Indikator genannt?
Den haben wir „CO2-Ausstoß“ genannt und unterteilt in die drei Sektoren Haushalte, dann Industrie, Gewerbe, Handel, Dienstleistungen und in den Sektor Verkehr. Da ist in unserem Portal aber noch ein weißer Fleck.

Dass es 47 Indikatoren geworden sind, hat damit zu tun, dass Sie anhand der Unterziele überlegt haben, was man da für einen deutschen Indikator hinterlegen könnte? Hätten es also auch 57 oder 67 Indikatoren werden können?
Weil wir 17 SDGs haben, wollten wir unseren Mitgliedern nicht mehr als 50 Indikatoren zumuten. Jedes Ziel sollte nur mit etwa drei Indikatoren hinterlegt werden. Aber es gibt in jedem Fall noch bedeutend mehr Indikatoren vom Typ 1, die wir verfügbar haben und die die Kommunen dann individuell hinzuziehen können. Unsere Idee von dem SDG-Portal ist es ja nicht, dass wir unsere Kommunen bevormunden wollen. Sondern man kann sich das eher vorstellen wie eine Startbilanz, Kommunen bekommen sekundenschnell einen Nachhaltigkeitsbericht. Städte wie Stuttgart oder Bonn zum Beispiel sagen: Vielen Dank, diese Arbeit müssen wir uns jetzt nicht mehr machen, aber wir haben andere Daten selber erhoben, damit ergänzen wir den Nachhaltigkeitsbericht.

Vergangenes Jahr beim Deutschen Nachhaltigkeitstag in Düsseldorf wurde darüber berichtet, dass Stuttgart 36 Indikatoren verwendet und die dann zum Teil auch noch modifiziert hat. Die Stadt Freiburg soll 33 Indikatoren auf ihre Nachhaltigkeitsziele angewandt haben. Jede Kommune pickt sich also ihre Perlen da heraus. Ist das so von Ihnen beabsichtigt?
Ja, genau. Kommunen sind divers. Und es ist von uns von Anfang an beabsichtigt gewesen, dass die Kommunen dieses Angebot für sich anpassen. Jede Stadt hat andere Schwerpunkte. Wenn wir das Ziel „Leben unter Wasser“ nehmen, dann ist das interessant für Bremen und Hamburg. Aber was sollen kleine Gemeinden aus den Alpen damit?

Gibt es schon einen Erfahrungsbericht, ob neben Bonn, Freiburg und Stuttgart auch noch andere Kommunen die Indikatoren nutzen? Weiß man, wer die nutzt? Haben Sie da schon etwas evaluiert?
Wir haben mit qualitativen Interviews zehn Städte dahingehend befragt, wie sie unsere Nachhaltigkeitsindikatoren nutzen und eine sehr positive Resonanz erhalten. Allerdings sind die Ergebnisse noch nicht veröffentlicht. Das ist erst Anfang nächsten Jahres in unserer Neuauflage der Broschüre „SDG-Indikatoren für Kommunen“ vorgesehen. Dann zählen wir natürlich die Zugriffe auf unser SDG-Portal. Das sind zwischen 1000 und 25000 Klicks monatlich. Im Juni waren es gleich 50000 Treffer. Ein anderer Peak war  im April, als unser Portal von der Bild-Zeitung erwähnt wurde. Nutzer sind hauptsächlich Politik und Verwaltung aus Kommunen. Viele Kommunalpolitiker vergleichen sehr gerne anhand von Indikatoren ihre Stadt mit anderen Städten. Andere lesen darin Trends und Entwicklungen ab und leiten daraus Maßnahmen ab. Natürlich freuen wir uns auch sehr über die Leser der Bild-Zeitung. Wir wollen schließlich auch die Bürgerinnen und Bürger für Nachhaltigkeit begeistern.

Der Indikatorenkatalog mit samt der Indikatorensteckbriefe steht für als PDF-Download bereit unter
 https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/sdg-indikatoren-fuer-kommunen/.
Das kommunale Nachhaltigkeitsportal finden Sie unter  www.sdg-portal.de

Autor:  Tim Bartels; Artikel aus N-Journal 4/2019.